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Schweizerische Gesellschaft für Strahlenbiologie und Medizinische Physik
Société Suisse de Radiobiologie et de Physique Médicale
Società Svizzera di Radiobiologia e di Fisica Medica
Swiss Society of Radiobiology and Medical Physics

Bulletin 1/98 (April 1998)

Inhaltsverzeichnis
(list of contents)

Arbeitsgruppe Dosimetrieprotokolle

Working Group for Stereotactic Convergent Beam Irradiation (SCBI)

Protonentherapie von Augentumoren

Vorstand SGSMP
(Adressen)

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Protonentherapie von Augentumoren :
2500 Patienten am PSI behandelt

More information (in English), incl. several images, may be found on
Proton radiotherapy for ocular tumors (The OPTIS project)

Einführung

Seit März 1984 werden am Paul Scherrer Institut PSI in enger Zusammenarbeit mit den Augenärzten des Hôpital Ophtalmique Jules Gonin in Lausanne Augentumoren mit Protonen bestrahlt. Im Januar 1998 wurde der 2500. Patient behandelt. Zu diesem Anlass möchten wir einen kurzen Rückblick über die gesammelten Erfahrungen und einen Ausblick auf eine mögliche Zukunft dieser erfolgreichen Therapie geben.

Historisches

Der erste Grundstein zur Bestrahlung von Tumoren mit Protonen wurde 1946 von Robert Wilson gelegt. Dieser schlug vor, die ballistischen Eigenschaften der Protonen für eine konformierende Bestrahlung von Tumoren zu nutzen. Die erste Behandlung eines Patienten mit einem Protonenstrahl fand 1954 in Berkeley statt. In Europa wurde 1957 in Uppsala erstmals ein Patient mit Protonen bestrahlt. Seit 1961 werden in Boston am Harvard Cyclotron Laboratory Tumoren mit Protonen behandelt. Diese Gruppe hat weltweit die grösste Erfahrung mit der Protonentherapie gesammelt und 1975 die heute überall angewandte Technik für die Bestrahlung von Augentumoren entwickelt. 1984 übernahm das damalige Schweizerische Institut für Nuklearforschung SIN (heute PSI) diese Technik und führte sie in Europa ein. Am PSI wurde vor allem die Positionierung der Patienten durch den Bau eines eigens zu diesem Zweck entwickelten Patientenpositionierungsstuhls wesentlich verbessert. Auf diese Weise entstand die OPTIS (Ophthalmologic Proton Therapy Installation Switzerland) Anlage des PSI. Schon bald wurde die Protonentherapie zur Behandlung von Augentumoren von den Krankenkassen anerkannt. Diese Therapie gilt heute als die Therapie der Wahl. Die ausgezeichneten Resultate, die sowohl von Boston als auch vom PSI publiziert wurden, veranlassten im Laufe der Zeit mehrere Gruppen in Europa, die am PSI angewandte Technik ebenfalls zu übernehmen: 1989 bauten Uppsala (Schweden) und das Clatterbridge Centre for Oncology (Grossbritannien) eine Anlage für die Bestrahlung von Augentumoren mit Protonen. 1990 verkaufte das PSI eine Kopie des Patientenstuhls an das neu erstellte Loma Linda University Medical Center (Kalifornien, USA). 1991 entstanden nach dem Modell der PSI Anlage auch in Orsay und Nice (Frankreich), sowie Louvain-la-Neuve (Belgien), 1995 am TRIUMF in Vancouver (Kanada) und 1998 am Hahn-Meitner-Institut in Berlin (Deutschland) Anlagen für die Behandlung von Augentumoren mit Protonen. Ähnliche Anlagen sind zur Zeit auch in Italien und Österreich geplant.

In Europa wurden im Jahre 1986 nur 120 Augentumoren mit Protonen bestrahlt. 1996 waren es bereits über 600. Dank der Protonentherapie kann heute in den meisten Fällen das Auge erhalten werden. In vielen Fällen - abhängig von Grösse und Lokalisation des Tumors relativ zu empfindlichen Strukturen - behält der Patient Jahre nach der Bestrahlung sogar eine brauchbare Sehfähigkeit.

Technik

Protonen haben, im Gegensatz zu den üblicherweise in der Strahlentherapie angewandten Photonen, im Körper eine ganz bestimmte, exakt begrenzte Eindringtiefe. Diese sogenannte Reichweite hängt von ihrer Anfangsenergie und dem Material ab, das sie abbremst. Zur Behandlung von Augentumoren benutzen wir Protonen mit einer Energie von 62 MeV, wodurch sie im Gewebe eine Reichweite von 30 mm haben. Am Ende ihrer Reichweite stoppen die Protonen und geben ihre maximale Dosis ab. So entsteht eine Dosis-Spitze, der Bragg-Peak. Dahinter fällt die Dosis im Falle der OPTIS Anlage innerhalb von weniger als 2 mm auf Null ab. Unterwegs, zwischen Körperoberfläche und maximaler Reichweite absorbiert das Material nur eine relativ geringe Dosis.

Der Bragg-Peak ist für die Bestrahlung eines ausgedehnten Tumors natürlich nicht geeignet. Ziel der Therapie ist es, den Tumor mit einer homogenen Dosis zu bestrahlen und dabei das gesunde Gewebe um den Tumor möglichst zu schonen. Zuerst wird der Protonenstrahl an einer Bleifolie gestreut. Mittels vier Kollimatoren wird eine homogene Dosisverteilung über einen Querschnitt von 34 mm erreicht. Der Protonenstrahl wird moduliert, um in der Tiefe eine homogene Dosisverteilung zu erreichen. Dies geschieht mittels Absorbern variabler Dicke, die mit einer Frequenz von 400 Hz im Strahl rotieren und somit die Reichweite der Protonen verändern. Falls gewünscht können mittels zusätzlicher Absorber die niederenergetischen Protonen absorbiert und somit die Dosis zwischen Oberfläche und Tumor reduziert werden. Durch Addieren eines festen Absorbers kann die maximale Reichweite an die Tiefe des Tumors für jeden Patienten individuell angepasst werden. Ein Kollimator, der genau dem Profil des Tumors angepasst ist, begrenzt den Querschnitt des Protonenstrahls. Auf diese Weise wird die Dosisverteilung dreidimensional an das Zielvolumen angepasst.

Um die Präzision des Protonenstrahls auszunützen (Dosisabfall von 100 % auf 0 innerhalb von weniger als 2 mm), ist es notwendig, das Zielvolumen genau zu lokalisieren. Zu diesem Zweck werden vor der Bestrahlung vom Augenarzt in Lausanne kleine Tantalplättchen (Clips) um den Tumorrand auf die Sklera aufgenäht. Nach diesem chirurgischen Eingriff begibt sich der Patient ans PSI, wo eine Kopfmaske hergestellt wird. Diese Maske, die einen Beissblock enthält, wird am Positionierungsstuhl fixiert und dient dazu, den Kopf des Patienten zu immobilisieren. Dank dieser Technik kann der Tumor mit einer Genauigkeit von 0.5 mm repositioniert werden. Beim ersten Besuch des Patienten am PSI werden anschliessend einige Röntgenaufnahmen (axial und lateral) des Auges gemacht. Die Clips sind darauf in einem Koordinatennetz sichtbar. Die Koordinaten der Clips werden ausgemessen und zusammen mit den ophthalmologischen Daten, wie z.B. die Augenlänge, in das Therapieplanungssystem eingegeben. Dieses Programm erstellt damit ein Modell des Auges. Anhand der Angaben aus dem Operationsprotokoll, der Fotos des Augenhintergrundes und der B-scan Ultraschallbilder des Tumors, wird dieser in das Modellauge eingezeichnet. Ist das Auge und der Tumor modelliert, wird die optimale Position für die Bestrahlung gesucht, d.h. die Position, die uns erlaubt, den Tumor zu bestrahlen und möglichst den optischen Nerv, die Macula und die Linse zu schonen. Der Therapieplan wird dem Augenarzt geschickt und besprochen. Falls notwendig werden anschliessend Korrekturen angebracht.

Die Therapie am PSI dauert eine Woche. Am Montag findet eine Simulation in der Therapieposition statt. Zu diesem Zweck wird der Patient im Stuhl installiert. Der Patient sitzt vor einem Koordinatennetz, auf dem sich ein Lichtpunkt befindet, den er fixieren muss. Damit kann das Auge des Patienten in die gewünschte Position gedreht und immobilisiert werden. Mittels einer axialen und einer lateralen Aufnahme wird die Position der Clips mit einem vom Therapieplanungsprogramm gelieferten Referenzröntgenbild verglichen. Auf diese Weise können Abweichungen von der berechneten Position von 0.1 mm festgestellt werden. Durch Verschiebung des Stuhls oder des Lichtpunktes wird der Tumor in die berechnete Position gebracht. Falls dies nicht möglich ist, wird der Therapieplan angepasst, was aber in weniger als 1 % der Fälle notwendig ist. Anschliessend wird mit Hilfe einer computergesteuerten Fräsmaschine für jeden Patienten ein Kollimator hergestellt, dessen Öffnung genau dem Profil des Zielvolumens entspricht.

Von Dienstag bis Freitag findet die Bestrahlung statt. Vor jeder Behandlung wird ein Tiefendosisprofil aufgenommen um festzustellen, ob die Reichweite und die Modulation (Länge des 100 % Dosisbereichs) korrekt eingestellt wurden. Anschliessend wird der Patient positioniert. Erst wenn die Abweichung von der berechneten Position kleiner ist als 0.2 mm, wird die Bestrahlung durchgeführt. Während der Bestrahlung wird die Position des Auges mit Hilfe einer Kamera überwacht. Am Monitor erscheint die Pupille des Patienten 50-fach vergrössert, so dass jede kleinste Bewegung festgestellt werden und allenfalls die Bestrahlung unterbrochen werden kann. Da die Bestrahlungszeit sehr kurz ist (ca.10 bis 30 Sekunden, abhängig von der Reichweite der Protonen), kommt dies nur etwa einmal auf hundert Bestrahlungen vor. Das PSI Team ist heute so gut eingespielt, dass wir in der Lage sind, vier Patienten pro Stunde mit dieser Präzision zu behandeln.

Ergebnisse

Zwischen März 1984 und Ende Januar 1998 haben wir 2502 Patienten behandelt: 2239 Aderhautmelanome, 66 Rezidive von Aderhautmelanomen, 60 Aderhauthemangiome, 27 intraokulare Metastasen, 32 altersbedingte Maculadegenerationen, 57 Melanome der Konjunktiva und 21 andere diverse Augentumoren.

Aderhautmelanome

Ziel der Protonentherapie ist in erster Priorität die lokale Tumorkontrolle, die Erhaltung des Auges und - wenn möglich - die Erhaltung einer brauchbaren Sehfähigkeit. Die Patienten erhalten eine Dosis von 60 Gy in 4 Fraktionen.

Unter 2065 Aderhautmelanomen, die zwischen März 1984 und Mai 1997 mit Protonen bestrahlt wurden, mussten 63 Patienten infolge eines lokalen Rezidivs eine zweite Behandlung erhalten. Die lokale Tumorkontrolle, nach Kaplan - Meier berechnet, beträgt 3 Jahre nach der Therapie heute 98.5 %, wie auf der nachfolgende Grafik zu sehen ist. Dank der stetigen Verbesserung unserer Technik und der gewonnenen Erfahrung wurde die Rezidivrate im Laufe der Jahre von 12 % auf weniger als 2 % reduziert. Bei 174 Patienten wurde das Auge infolge von Komplikationen oder als Therapie eines Rezidivs entfernt. 48.9 % der Patienten hatten zur Zeit der letzten Nachuntersuchung noch eine brauchbare Sehfähigkeit. Die Ueberlebens-wahrscheinlichkeit nach der Protonentherapie entspricht der Ueberlebenswahrscheinlichkeit nach Enukleation (Entfernung des ganzen Auges als Tumortherapie).

Rezidive von Aderhautmelanomen

Neben der Protonentherapie bestehen für die Behandlung von Aderhautmelanomen grundsätzlich noch folgende Alternativen: Chirurgische Exzision des Tumors, Brachytherapie mit Co-60, I-125 oder Ru-106 Applikatoren. Früher wurden kleine Tumoren auch mit Laser- Photokoagulation behandelt. Diese Alternativen sind allerdings dadurch gekennzeichnet, dass die lokale Tumorkontrolle schlechter ist als mit der Protonentherapie. Oftmals werden uns mit einer dieser Techniken behandelte Patienten zur Behandlung eines Rezidivs mittels Protonentherapie zugewiesen. Die lokale Tumorkontrolle nach dieser zweiten Therapie, jetzt mit Protonen, ist dieselbe wie im Falle der direkt mit Protonen behandelten Tumoren. Auch diese Patienten erhalten eine Dosis von 60 Gy in 4 Fraktionen.

Hemangiome der Aderhaut

Diese Tumoren sind nicht bösartig. Sie haben aber die Tendenz, mit der Zeit grösser zu werden und dadurch die Sehfähigkeit der betroffenen Patienten zu beeinträchtigen. Meistens sind sie mit einer exsudativen Netzhautablösung verbunden. Ziel der Therapie ist die Zerstörung des Tumors zur Erhaltung der Sehfähigkeit. Diese Tumoren werden mit einer totalen Dosis von 20 Gy in 4 Fraktionen behandelt. Der Tumor verschwindet innerhalb von etwa 6 Monaten bis 2 Jahren. Dadurch verschwindet auch die Netzhautablösung. Dank der niedrigen Dosis entstehen keine strahleninduzierten Komplikationen und praktisch alle behandelten Patienten haben 2 Jahre nach der Behandlung die gleiche oder eine bessere Sehfähigkeit als vor der Behandlung.

Melanome der Konjunktiva

Lange Zeit war die Exenteration des Auges die einzige Therapie für diese Tumoren, d.h. das Auge wurde entfernt, ebenso die Lider und ein grosser Teil der Kavität, in der sich das Auge befand. Die kosmetischen Ergebnisse einer solchen Therapie waren sehr unbefriedigend. Die Lausanner Aerzte haben eine Technik entwickelt, bestehend aus einer chirurgischen Exzision des Tumors, Kryokoagulation der Konjunktiva, Bestrahlung des temporalen Teils der Konjunktiva mit Co-60 Brachytherapie und Bestrahlung des nasalen Teils der Konjunktiva mit Protonentherapie (um die Tränendrüsen zu schonen). Dank dieser aufwendigen Technik ist es uns gelungen, einen lange Zeit als unheilbar geltenden Tumortyp mit einer guten lokalen Tumorkontrolle und guten kosmetischen Ergebnissen zu behandeln. Dem Patienten wird nicht nur das Auge gerettet, in den meisten Fällen behält er auch eine brauchbare Sehfähigkeit.

Intraokuläre Metastasen

Ziel der Therapie ist die Kontrolle der Metastase und die Erhaltung der Funktion des Auges bis zum Tod des Patienten. Wir bestrahlen Metastasen mit einer Dosis von 25 Gy in 4 Fraktionen. Auch in diesen Fällen ist die Protonentherapie sehr erfolgreich. Die gesteckten Ziele werden in praktisch allen Fällen erfüllt.

Altersbedingte Maculadegeneration

Diese Erkrankung kommt bei älteren Patienten vor und ist die Hauptursache für Erblindung. Jährlich sind in der Schweiz etwa 1000 Menschen davon betroffen. Ziel der Therapie ist die Erhaltung der Sehfähigkeit. Bisher war noch keine Therapie vorhanden, die es erlaubt, ein Fortschreiten der Degeneration aufzuhalten und dem Patienten eine brauchbare Sehfähigkeit zu erhalten. Die Protonentherapie befindet sich erst im Versuchsstadium. Ob sie die Therapie der Wahl wird, kann erst in einigen Jahren ausgesagt werden. Bisherige Ergebnisse lassen allerdings vermuten, dass das Fortschreiten der Erkrankung mit einer Protonentherapie aufgehalten werden könnte.

Schlussbemerkungen

Protonentherapie ist heute die Therapie der Wahl für Aderhautmelanome mit einer Dicke von mehr als 6 mm und solche, die sich in der Nähe des optischen Nervs befinden. Die Ergebnisse sind einmalig, was die lokale Tumorkontrolle anbelangt. Infolge der Tatsache, dass vor allem grössere und ungünstig gelegene Tumoren mit Protonentherapie behandelt werden, ist die Komplikationswahrscheinlichkeit etwas höher als bei der Brachytherapie. Durch Erhöhung der Anzahl Fraktionen und Reduktion der Dosis erscheint heute aber auch in dieser Hinsicht das Optimierungspotential noch nicht ausgeschöpft. Die Zeit scheint auch reif geworden zu sein, sich darüber Gedanken zu machen, diese erfolgreiche Therapie von einem Forschungslabor an ein Spital zu transferieren.

Dr. Emmanuel Egger, PSI (Villigen)

top of page Diese Seite wird von Wolf Seelentag betreut (Text von Emmanuel Egger), letzte Bearbeitung 20 Juli 2007.
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